Langlaufen und Philosophie - ein etwas anderer Laufbericht 

Seit 25 Jahren betätige ich mich philosophisch, seit 10 Jahren als Langläufer. Beides mit Begeisterung. Geist und Körper, Kontemplation und Aktion scheinen aber Gegensätze zu sein. Die traditionelle Wertung ist sowohl in der Antike als auch im Christentum eindeutig, nämlich leibfeindlich. 
Auch ich wurde im besten Sinne des Bildungsbürgertums erzogen: Bildung des Geistes wurde in meinem Elternhaus ungleich höher bewertet als die Bildung des Körpers. Täglich lesen ja, täglich musizieren ja, aber täglich Sport zu treiben schien geistlose Zeitverschwendung. So hatte ich weder sportliche Vorbilder in der Familie noch erhielt ich Anerkennung für gute Noten in Sport. 

Wie kann man also sowohl Denken als auch Laufen? Und warum lange Strecken laufen?

Bekannt ist die Antwort Emil Zatopeks: "Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft".
Das Laufen entspreche eben der Natur des Menschen. Aber reicht diese biologistische Erklärung? Als Ausgleich zur artfremden Sitzhaltung im Büroalltag hat das Joggen sicher eine sinnvolle Funktion. Aber macht es darum das Wesen des Menschen aus? Immerhin laufen Antilope und Gazelle auch, und zwar schneller. Traditionell wird daher das Wesen des Menschen bestimmt durch das, was ihn von den Säugetieren unterscheidet: seine Vernünftigkeit (besser: seine Anlage zur Vernünftigkeit).

Ich suche daher nach anderen Gründen. Davon gibt es viele, die einem als psychologisch Verbildeten einfallen:
- Streben nach Anerkennung durch übertriebenes Geltungsbewusstsein (der schnellste sein wollen) oder durch Bekämpfen überflüssiger Pfunde, 
- midlife crisis, Kompensation beruflicher Unausgelastetheit,
- Weglaufen vor privaten oder beruflichen Problemen, 
- Suche nach Kontakten mit Gleichgesinnten (vor allem des anderen Geschlechts) beim Lauftreff.
Gemeinsam ist diesen Motiven, dass hier das Laufen jeweils Mittel zu einem anderen Zweck ist.

Ich möchte demgegenüber einen anderen Aspekt betonen, indem sich die Philosophie mit dem Langlaufen trifft, und das mit der sogenannten Entdeckung der Langsamkeit zusammenhängt. Was ist damit gemeint?
Wir erleben Zeit vor allem als Beschleunigung: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Nicht zuletzt dank der immer schnelleren Computer reduziert sich die Halbwertszeit des Wissens so schnell, dass wir alle zu lebenslangem Lernen gezwungen sind.
Zeit macht sich vor allem dadurch bemerkbar, dass sie fehlt. Wer hat schon Zeit? Wir alle sind im Alltag meist gehetzt, angespannt, suchen die verlorene Zeit in den Lücken des Terminkalenders. 
Ziel der Beschleunigung ist das Sparen von Zeit. Aber was nützt es einem, wenn man am Ende seines Lebens die Minuten ausrechnet, die man Zeit seines Lebens gespart hat ...?

Der Sprinter ist in diesem Sinne der zeitgemäße Läufer. Denn er will vor allem eins: schnell sein. Auch als Langläufer kann man sich dem rasenden Zeitgeist anpassen: Zeitmessung, Leistungsorientierung kann je nach Motivation durchaus lustbringend sein. 

Aber ich behaupte, dass es dem (durchschnittlichen) Langläufer noch um etwas anderes geht: Er will "sich gehen lassen": sein Tempo und seinen Rhythmus finden, weder hetzen noch trödeln, im Einklang mit der Zeit leben, sie als seine Zeit wahrnehmen. Glücklich ist der, dem keine Stunde schlägt (höchstens der Pulsmesser, der den gleichmäßigen Rhythmus des Pulses anzeigt). Wer in einer Tätigkeit so aufgeht, dass er sich und die Zeit vergessen kann, kann sich glücklich fühlen. Es geht gerade nicht darum, einen Konkurrenten auszustechen, der Bessere zu sein, sondern für sich selbst den richtigen Laufrhythmus zu finden. Wenn der sich mit dem Rhythmus anderer Mitläufer (nicht Gegner!) deckt, um so schöner.
Entdeckung der Langsamkeit heißt also, den positiven Sinn der vermeintlich negativen Langsamkeit zu begreifen. Auch und gerade wenn dies nicht in unsere Zeit zu passen scheint.

Unser Alltagsleben ist zielorientiert, nützlich und zukunftgerichtet. Beim Langlaufen (und beim philosophischen Nachdenken!) demgegenüber gilt: der Weg ist das Ziel. Langlaufen ist nutzlos und gegenwartsorientiert. Es geht nicht um das schnelle Ankommen am Ziel, sondern um das Laufen selbst. In der philosophischen Terminologie: Langlaufen ist nicht Mittel für einen Zweck außerhalb seiner, sondern Selbstzweck. 
Und schon seit Aristoteles ist bekannt, dass diejenigen Handlungen, die man um ihrer selbst willen begeht, am lustvollsten sind. Allerdings hat Aristoteles die höchste Lust im Denken ausgemacht. Ob er es je mit dem Laufen probiert hat? 


Karsten Altenburg, im August 2002