Erlebnisbericht Münchenmarathon Oktober 2002

Viola Frankenberg (e-Mail an die Autorin)

 

Einmal einen Marathon gelaufen sein. Es gut durchstehen. Über ein Jahr habe ich darauf hingearbeitet. Im Training Wind, Regen, Eis, Schnee und Hitze getrotzt und den inneren Schweinehund in Schach gehalten. Dann endlich zum großen Test antreten. Nach all den Trainingskilometern die Ernte einfahren. Nach über 42 km mindestens so glücklich wie erschöpft ins Ziel kommen. Im Juni 2002. In Stockholm. Es war heiß. Für einen Marathon zu heiß. Ich war vernünftig und teilte meine Kräfte ein. Meine Uhr zeigte 4 Stunden 21, als ich ins Stockholmer Olympiastadion einlief.
Meine gesamte sportliche Planung hörte in diesem Moment auf. Aber nicht die Lust am Laufen! Der Marathon war schneller "weggesteckt" als erwartet. Nach einer Woche winselten meine Joggingschuhe schon wieder um meine Füße herum und bettelten mich an endlich wieder ausgeführt zu werden. Aber ich wollte nicht im gleichen Trott weitermachen. Irgendetwas sollte anders werden. Nachdem ich in der Vorbereitung auf den Stockholm Marathon 13 Monate lang zumeist allein gelaufen war und meine Trainingsergebnisse nur mit meiner Microsoft Exel-Tabelle kommuniziert hatte, lag es auf der Hand, was ich tun konnte: testen wie es sich in einem Lauftreff läuft!
Ich hatte den Infozettel vom LT Karlsruhe, den mir Olli Mienert bei Runner's Point in die Hand drückte, schon seit Wochen an meinem Kühlschrank heften. Im Juli raffte ich mich endlich auf und ging zum Treffpunkt des LT Karlsruhe am Adenauerring. Inmitten dieses Haufens gut gelaunt schnatternder Läufer und Läuferinnen und fühlte mich willkommen von der ersten Minute an. Die Entscheidung beim LT mitzulaufen war aber auch sportlich ein Volltreffer. Mit den anderen Läufern zusammen war es nicht nur viel leichter ein zügiges Tempo auf längere Strecken zu laufen, sondern es machte auch noch viel mehr Spaß. Außerdem: Da waren welche, mit denen ich über tausend Dinge rund um das Thema "Laufen" reden konnte, ohne dass sich Langeweile breit machte.
Nach ein paar Wochen erzählte mir Harald Deinzer, ein "Mitläufer" beim LT Karlsruhe, dass er plane, im Oktober den München Marathon zu laufen. Da es, seit ich zum LT kam, mit dem Training richtig prima lief, überlegte ich mir tatsächlich, ob ich mich nicht doch noch mal an einen Marathon heranwagen sollte. "Wer weiß, was nach dem Winter von der mühsam erarbeiteten Form noch übrig ist?", dachte ich. Also schloss ich mich Harald an. Ich fasste das Ziel ins Auge, 4 Monate nach dem ersten Marathon gleich einen zweiten bestreiten zu wollen!
In den wenigen, noch verbleibenden Wochen bis zum Marathon brachte ich noch ein paar lange Läufe (max. 30 km) unter und reduzierte rechtzeitig zwei Wochen vor Termin mein Wochenpensum von 40-60 km auf lockere 30 km. In der Woche vor dem Lauf ernährte ich mich in der Hauptsache von Haferflocken, Kartoffeln und Pasta, trank viel, schonte meine Beinmuskulatur und versuchte mich mental auf das Laufereignis vorbereiten: Wie sieht die Strecke aus? Wie wird das Wetter werden? Was ziehe ich an? Ich erinnerte mich, dass mir während des Stockholm Marathons die Zeit zwischenzeitlich lang wurde. Ich fand es anstrengend, mich vier Stunden lang in der Hauptsache mit der Einteilung meiner Kräfte und der Kontrolle des Lauftempos zu beschäftigen.
Aber das würde mir bei diesem Mal nicht passieren, denn ich würde mit Harald gemeinsam starten und versuchen möglichst lange in seiner Gesellschaft zu sein. Wenn uns dann die Puste zum Reden ausgehen würde oder wenn wir uns trennen würden, wollte ich meinen MP3-Player einschalten, um für den Antrieb zu sorgen, der mich letztlich bis ins Ziel tragen sollte. Meine lange hin und her erwogene Playliste, die leider gerätebedingt 64 MB nicht übersteigen durfte, enthielt Daft Punk, P.O.D., New Model Army, Prodigy, Faithless, Kosheen, Sylver und Konsorten. Als ich hörte, dass wir ins Münchner Olympiastadion ,also die Bayern München-Hochburg, einlaufen würden, stand dann auch meine Garderobe fest: mein froschgrünes Werder Bremen Trikot!
In den letzten Tagen vor dem Marathon achtete ich darauf lange genug zu schlafen, denn ich las, dass insbesondere die Nächte 3 und 2 vor dem Termin eine wichtige Quelle für Kraft und Ruhe im Lauf sind. Schon einen Tag vor dem Lauf begann ich regelmäßig und viel Wasser oder Tee zu trinken. Dann endlich, am Freitag den 12. Oktober, ging's los nach München. Dabei waren: Harald und ich, unser Supportteam Jenny und Jens sowie zwei weitere "Marathonis" aus Karlsruhe.

Im Auto rechnete mir Jens meinen Marschplan aus, der mich in unter 4 Stunden ins Ziel tragen sollte. Als ich seine Tabelle mit den angestrebten Zwischenzeiten sah, wurde mir mulmig: bis km 20 einen 5:30er Schnitt!? No way!! Es bedurfte einiger mutmachender Worte, um mich davon zu überzeugen, dass ich das tatsächlich probieren solle. Jens stellte mir in Aussicht: Wenn ich den halben Marathon in 1:55 h schaffen würde, hätte ich mir ein Polster erarbeitet, das mir erlauben würde in der zweiten Hälfte des Laufs langsamer zu werden ohne mein erklärtes Ziel "U4" (unter 4 Stunden) aufgeben zu müssen. Ich sagte mir selbst, immer noch zweifelnd, dass nichts dagegen spricht, diesen Lauf risikofreudiger als Stockholm anzugehen. Dass ich einen Marathon schaffen kann, hatte ich bereits im Juni unter Beweis gestellt; nun galt es alles auf die verlockende Karte "U4" zu setzen.
Nachdem ich in Stockholm ein Problem mit zu großer Hitze hatte, deutete nun alles darauf hin, dass ich in München ein Problem mit Regen und Kälte haben würde. Den ganzen Freitag und die ganze Nacht zum Samstag hindurch regnete es Bindfäden, und der Himmel ließ keine Besserung erwarten. "Dann ist die Herausforderung eben eine größere als sie es ohnehin wäre!", sagte ich mir. "Wenn man unter solchen Bedingungen den Lauf erfolgreich absolviert, fühlt man sich im Ziel vielleicht noch großartiger?", versuchte ich mich zu motivieren. Gleichwohl wusste ich, dass ich unter solch kraftraubenden Bedingungen meine Ziele herunterschrauben müsste. Doch wir hatten Glück: Der Regen hörte -wie bestellt- eine Stunde vor Startschuss auf. Zur Sicherheit habe ich dennoch eine halbe Packung Vaseline auf mir verteilt; zum einen als Scheuerschutz und zum anderen als Wetterschutz. Es stellte sich bald heraus, dass das kein kluger Zug von mir war. Der Marschplan sollte ja noch auf meinen Arm geschrieben werden! Aber welcher Kugelschreiber schreibt schon auf Vaseline? Ich ärgerte mich und wollte mich absolut nicht darauf einlassen ohne Marschplan zu laufen. Meine Stimmung schlug um. Jens und Harald bemühten sich rührend, diesen verdammten Kugelschreiber einigermaßen zum Schreiben zu bekommen. Letztendlich hat es ja dann doch noch geklappt mich angemessen mit verheißungsvollen Zahlen zu verzieren, als wäre es eine Kriegsbemalung. :-)
Eine halbe Stunde vor Start war es höchste Zeit, sich unserer Trainingsanzüge zu entledigen. Unsere Taschen, die wir vorher mit unseren Startnummern beschrifteten, gaben wir an der Sammelstation ab. In diesem Moment merkten diejenigen, die wie wir im kurzen Laufdress an den Start gehen wollten, dass es an grauen Oktobermorgen in einem zugigen Stadion ziemlich frisch ist!! Meine Mitläufer waren froh, als ich blaue Plastikmüllsäcke aus der Tasche zauberte. Kurz vor einem Marathonstart, ist es einem Gott sei Dank egal wie lächerlich man aussieht. Hauptsache man kühlt nicht aus! Also machten wir in die Säcke Öffnungen für Kopf und Arme und zogen sie uns über. Der Final Countdown lief. Zum Warmmachen blieb nur noch wenig Zeit. Trotzdem vertrödelten wir noch weitere Zeit damit Gruppenfotos zu schießen. Tja, anscheinend war der Mann hinter der Kamera genauso nervös wie wir. Die verwackelten Bilder schlossen auf kein allzu ruhiges Händchen! Aber trotzdem sind diese Bilder schöne Erinnerungen. Ein Marathon ist eben nicht nur ein Wettkampf sondern auch ein selbst gewähltes Abenteuer, das wir nicht nur auskosten sondern auch auf Fotos festhalten wollten.
Wir bewegten uns locker trabend in Richtung des Startbereichs. Tausende von Läufern und Läuferinnen füllten die nach außen mit Gittern eingezäunte Straße vor dem Stadion. Die Musik war laut und gut, was zumindest meinen Adrenalinspiegel spürbar steigen ließ. Wir waren nervös, glücklich, aufgeregt und alberten herum wie Kinder. So weit das Auge reichte, sahen wir Läufer und die Straße säumten Hunderte von Zuschauern. Feierliche Worte von irgendeinem vermutlich sonstwie wichtigen Mann schallten über Lautsprecher auf uns herab. Der gute Mann hätte auch seinen Einkaufszettel vorlesen können, ich hörte längst nicht mehr auf das was er da sprach; ich fieberte nur auf das Signal zum Start. Letzte Worte. Dann der Schuss. Jubel von Läufern und Zuschauern. Es war soweit! Fast, denn nach dem Startschuss beginnt zwar der Lauf, aber das zunächst nur für die ersten Reihen. In unserem Fall verstrichen über 3 Minuten, bis sich der Menschentross um uns herum auch endlich in Bewegung setzen durfte. 3 Minuten können sich sehr lang anfühlen! Eigentlich war keine Eile geboten, denn die Nettozeitmessung eines jeden Läufers beginnt erst, wenn der Computer Chip am Schuh die Startlinie passiert. In diesem Moment ertönt ein Piepskonzert, denn jeder startet seine Stoppuhr am Arm, sobald er den Balken der Zeitmessung passiert. Es dauerte noch einige Minuten bis das Gedrängel etwas nachließ und man sein Tempo bestimmen konnte. Mit 5,41 min hielt sich die zeitliche Einbuße auf dem ersten Kilometer erfreulicherweise in Grenzen. Nun lautete die Aufgabe: locker in den Trott kommen und jeden absolvierten Kilometer stoppen. Die Armbanduhr, die ich trug, konnte Zwischenzeiten nehmen, so dass ich mein Tempo im Auge behielt und trotzdem immer die Gesamtzeit sehen konnte. Ich habe zwar ein gutes Gefühl für meine Geschwindigkeit und ich kann ein gleichmäßiges Tempo laufen, aber wenn ich im Wettbewerb nervös bin und ich in einer Menschenmenge laufe, verliere ich dieses Gefühl für meine Geschwindigkeit. Ich war dankbar, durch diese Uhr mein Wettkampftempo kontrollieren zu können. Jeder gestoppte Kilometer wurde in meiner Uhr gespeichert. Ich passierte Kilometer 10 nach 55 Minuten, was einem Schnitt von 5,31 Minuten bedeutete. Nun galt es, sich an das Tempo zu gewöhnen; den inneren Tempomat zu programmieren.
Harald und ich liefen nebeneinander und freuten uns über die optimalen Bedingungen. Die Laune war bestes und ab Kilometer 15 stellte sich endlich ein Rhythmus ein. Das bedeutet, dass es sich bei gleichem Tempo ruhiger und leichter läuft. Perfekt. Wenn es nur so bleiben könnte! Noch unterhielten wir uns, aber als wir uns dem Halbmarathon nährten, wurden unsere, vor allem meine, Wortbeiträge spärlicher, so dass ich entschied, mir Musik aufs Ohr zu schalten. Marathon-Feeling at its best! Ein Hochgefühl von Kraft, Wohlbefinden, Abenteuer und Leistungsfähigkeit. Hätte ich ein Weck-Glas dabei gehabt, hätte ich dieses Gefühl eingefangen, das Glas fest zugeschraubt, beschriftet und für immer ins Regal gestellt. Da das aber nicht geht, schreibe ich diesen Bericht, um meine Erinnerungen zu konservieren und verliere mich dabei in den kleinsten Details. Ich bitte den Leser um Nachsicht!
Den Halbmarathon absolvierte ich in 1:55 h, also haargenau wie anvisiert. Natürlich war ich froh darüber, aber es war mir sehr wohl bewusst, dass die wahre Herausforderung erst in der zweiten Hälfte zu bewältigen war. Wie lange würde es noch möglich sein, den Schnitt von etwas über 5:30 zu halten? Ich bangte der ersten Erschöpfungssignale meines Körpers entgegen. Die Frage war nicht, ob, sondern wann ich sie spüren würde.
Harald lief schon seit einigen Kilometern nicht mehr neben mir sondern direkt hinter mir. Wir kämpften darum den Schnitt zu halten. Aber dieser Kampf wurde nun von jedem von uns mit sich selbst ausgetragen. Hintereinander laufend klappte es auch besser mit dem Überholen von anderen Läufern. Harald war in der Hauptsache mit all seiner Konzentration bei sich und ich war ebenso auf mich und die rasenden Zahlen auf meiner Uhr beschäftigt, die ich meinem letzten verfügbaren Denkvermögen mit der handgeschriebenen Tabelle auf meinem linken Arm in Einklang zu bringen bemüht war. Durch meine Musik befand ich mich in meiner eigenen Welt. Ab und zu wendete ich mich um, um zu sehen, ob Harald noch da ist. Würde ich langsamer werden, würde er es vermutlich auch tun. Das Gefühl, für unser Tempo verantwortlich zu sein, nutzte ich für weitere Disziplinierung. Das Umdrehen nach Harald kostete Kraft, so dass wir dazu übergingen, dass er sich, wenn ich versuchte mich nach ihm umzusehen, kurz mit "bin da!" meldete. Irgendwann hörte ich lange nichts mehr von ihm, drehte mich um und konnte ihn hinter mir nicht mehr sehen. Wir hatten uns verloren irgendwo zwischen km 22 und 26, also ca. nach zweieinhalb Stunden. Also war ich nun allein auf mich gestellt.

Jens, der mich betreute, schaffte es, sich einige Male so entlang der Strecke zu positionieren, dass ich ihn in seinem roten Trainingsanzug ausmachen konnte. Beim ersten Treffen teilte ich ihm mit, wie weit ich mit einer Nettozeit hinter der Bruttozeit liege. Er war sehr zufrieden mit meinem bisherigen gleichmäßigen und absolut planmäßigen Tempo. Er freute sich, dass ich immer noch locker lief, mich gut fühlte und sichtbar Spaß an der Sache hatte (auch wenn das auf dem Foto gar nicht so aussieht). Er machte mir Mut, lobte mich und teilte mir mit, wo ungefähr die anderen waren.
Ich ermahnte mich ständig Haltung zu bewahren, aufrecht und locker zu bleiben. Bloß in keinen Schlappschritt verfallen! Das würde nur Zeit und Kraft kosten. Langsam aber sicher wurde es ernst. Im dritten Viertel des Laufs (km 20 bis km 30) konnte ich immerhin noch einen Schnitt von 5:38 min/ km erreichen, rutsche aber schon ab km 29 jenseits der 5:40 min/km ab. Ich merkte, wie meine Energiebereitstellung immer weniger leistungsstark wurde.
Der Englische Garten zog sich endlos hin. Ich heftete mich an die Fersen zweier junger Frauen, die auf mich eher wie Gelegenheitsjogger wirkten. Zu meinem großen Neid schienen sie nicht gleichermaßen mit Ermüdung zu kämpfen wie ich. Das juckte mich, und ich nahm mir vor, den Anschluss an sie nicht vor Ende des Englischen Gartens zu verlieren. "Die laufen das Tempo, das ich jetzt noch eine Weile schaffen muss, um die ‚U4' zu knacken" glaubte ich zu wissen. Irgendwann sah ich statt der zwei kleinen Frauen im rosa und fliederfarbenen Laufdress nur noch eine große, leuchtende und lockende ‚U4' vor mir. Mein großes Ziel trabte vor mir und ich hatte große Mühe dran zu bleiben. "Keinen Meter verlieren!", ermahnte ich mich. Jetzt würde sich entscheiden, ob ich mein Ziel schaffe oder nicht. Ich wusste, ich würde immer langsamer werden. Also galt es, alles daran zu setzen so langsam wie möglich abzubauen anstatt schnell einzubrechen. Ich wusste, dass Jens' Planung zwar ein Verlangsamen erlaubte, einen Tempoeinbruch aber nicht. Es waren die härtesten Momente des Laufes. Ein kleiner Moment der Unkonzentriertheit, ein Moment der Nachlässigkeit und schon waren aus 1 m Abstand 3-4 m geworden. Kurz vor Ende des Englischen Gartens brach der Anschluss zu den beiden Frauen ab. Ich musste sie ziehen lassen, um mit meiner Restenergie zu haushalten.
Weiterhin nahm ich jede Getränkestation in Anspruch, begann aber immer weniger zu trinken denn ich wusste, dass mehr an Flüssigkeit jetzt nur noch Ballast wäre; so nah war das Ziel. Die Musik im Ohr war jetzt enorm wichtig. Der Rhythmus, und besonders die aggressiveren Lieder, trieben mich weiterhin an. Zwischen km 30 und km 40 lief ich immerhin noch einen Schnitt von 5,67 min. Es waren ab und zu auch km dabei, für die ich knapp über 6 min brauchte. Dies auf meiner Uhr festzustellen rüttelte mich wach und ich ermahnte mich jetzt mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.Einer der schönsten Momente in meinem Marathon ist der Zeitpunkt an dem mir bewusst wurde, dass man nun immer weniger haushalten braucht (nach ca. km 40). Ich wusste, dass ich den härtesten Teil des Marathons nun hinter mir hatte. Nun war es erlaubt, an die letzten Reserven zu gehen. Je näher man dem Ziel kommt, desto mehr löst sich wieder die Spannung, die sich auf den schwierigen Kilometern aufgebaut hat. Der Schritt wird länger und man zwingt sich zur Lockerheit, aber es tut weh. Ich war wie in Trance. Rechts und links an der Strecke standen immer mehr jubelnde Menschen, aber ich nahm sie nur undeutlich wahr. Bands spielten am Straßenrand. Ich vernahm es kaum, denn ich war voll auf das eingeschworen, was mir mein mp3-Player vorspielte.
Die ersten Stimmen riefen uns zu: "Nur noch 1,5 km!", "Gleich habt ihr's geschafft!", "Das Ziel ist schon direkt vor euch!". Das waren Sätze, die ich sehr wohl wahrnahm, denn es war das, was ich sehnsüchtig hören wollte. Ich dachte "Jetzt das Ding nach Hause bringen und Genießen nicht vergessen!". Ich war bereit für den Moment des Einlaufens, auf den ich so lange hinfieberte. Ich ahnte nun, ich könnte wirklich die U4 schaffen! Es würde knapp werden, aber ich hatte nicht mehr genügend Kraft, um auszurechnen wie knapp es werden würde.
Da tauchte es schließlich auf: das Münchner Olympiastadion. O.K., wo wie weit war es nun bis zum Marathontor, dem Einlass ins Stadioninnere? Noch weit? Nun zählte jede Minute! Wie ein großes schwarzes Loch war es plötzlich vor mir: Das Marathontor, von dem ich mich jetzt schlucken lassen wollte. Zu meiner Überraschung und Freude war es mit lauter Musik beschallt. Dadurch und durch den künstlichen Nebel sowie durch die Discobeleuchtung haben die Veranstalter eine unglaubliche Gänsehaut-Atmosphäre geschaffen. Und ich fand, wir hatten genau das jetzt verdient! Da es an dieser Stelle ein leichtes Gefälle gab, hatte man das Gefühl zu fliegen. Dieses Erlebnis gab uns einen letzten hochwillkommenen Kraft- und Motivationsschub.
Der Discotunnel spuckte uns ins Stadioninnere aus. Hier war es hell durch die scheinende Herbstsonne, bunt vor lauter Zuschauer, laut durch Jubel, Musik und die Stimme des Stadionsprechers, der uns die Bruttozeit verkündete und uns anspornte. Eine irre Atmosphäre! Nun nur noch die letzten 300 m auf der Tartanbahn absolvieren; jeden Meter zelebrieren. Alle verbleibende Kraft verschenken und stark ins Ziel laufen. Ich konnte mein Tempo deutlich steigern, ein richtiger Endspurt war möglich! Schon auf den letzten Metern begriff ich, dass ich die magische "U4" bezwungen hatte. Ich hab's wirklich gepackt. In respektablen 3h58min35sec, einer Zeit die ich mir erträumt hätte!

Karlsruhe, den 23.02.03
Viola Frankenberg