Medienmarathon München 2002:

Von guten Freunden, viel München und einem langen langen Weg

Wo könnte wohl morgen früh der bestmögliche Treffpunkt sein? Der beste Treffpunkt im Olympiastadion München, wenn es mit 30.000 Leuten gefüllt ist? - das fragten wir uns. Wir, das war ein kleiner wilder Haufen von Läufern, die Grosses im Sinn hatten: Viola, Christof, Matthias und ich. Und morgen, am 13.10.2002 würde der grosse München-Medien-Marathon sein, der Tag der Wahrheit. Der Tag, an dem sich zeigen sollte, ob unsere Vorbereitungen gut gewesen waren und wir die Leistung bringen konnten, die ein Marathon unweigerlich kostet. Das noch leere Stadion würde morgen wahrscheinlich völlig anders aussehen – gefüllt mit alleine 7500 Läufern und Tausenden von Angehörigen, Zuschauern und Helfern. 

Und der Morgen kam:  8:20 Uhr – und wir finden als ein kleines von vielen Grüppchen am Platz der Nudelparty (üblicherweise gibt’s die nämlich immer nach dem Marathon). Die Ströme der Sportler ziehen an uns vorbei – viele, viele junge motivierte Gesichter, manchmal Angst, ein paar kurze Seitenblicke von Helden, die gleich in den großen Kampf ausziehen. Plötzlich ist noch Jörn da, der gestern noch wilde Kopfschmerzen hatte, sich erst in letzter Minute endgültig für den grossen Lauf entschieden hat und extra um 6 Uhr morgens von Ulm nach München losgefahren ist. Und Jens, unser Mutmacher und Begleiter. Letzte Vorbereitungen: Viola zückt große Mülltüten aus ihrem Rucksack, die uns vor dem Lauf wärmen sollen – immerhin ist es klamm und ziemlich kalt – vielleicht 5°C. Wir beschriften mit dem einzigen Kuli (danke der Pommesbude gegenüber für die Leihgabe) weit und breit, der auch auf Haut schreibt, Viola’s Arm mit den Zeiten pro Kilometer, die sie laufen muss, um unter 4 Stunden ins Ziel zu kommen. Es ist immer noch kalt und feucht, wir frieren und der Kuli will nicht mehr auf der Haut schreiben. Egal – was muss das muss.    

   Langsam steigt unsere Laune, vielleicht auch die Aufregung . Wir machen uns Mut und haben Spaß dabei, unseren Marathonsieg mental vorzufeiern! Ein tolles Gefühl!!! Und dann geht es weiter zum Start. Die letzten Minuten bevor es losgeht. Die Seitenzäune der Strecke im Startumfeld sind hoffnungslos zur Seite gebogen. So viele Läufer kann man nicht so einfach einengen. Während sich Christof und Matthias in die Menge wühlen, warten Viola, Jörn und ich am Rand außerhalb der Absperrung. Als dann plötzlich ein Pacemaker für 4 Stunden vorbeiläuft, hüpfen wir über die Absperrung und laufen in seinem Tempo direkt hinter ihm. Viola konstatiert: „Wenn wir jetzt einen Schritt nach vorne machen, sind wir VOR dem 4-Stunden-Läufer. Lasst uns abmachen, dass wir ab diesem Zeitpunkt immer vor ihm bleiben werden! Dann schaffen wir den Marathon auch unter 4 Stunden“. Eine grandiose Idee und ein guter Zeitpunkt für ein festes Committment!!! Mit Begeisterung hüpfen auch Jörn und ich über die imaginäre Linie, die uns von einer Zielzeit von 4 Stunden trennt. 200 Meter weiter winkt unser Begleiter Jens heftig mit fröhlichem Gesicht aufmunternd von der Fussgängerbrücke herunter und macht die ersten Fotos von uns - mitten in der Masse.

        

Am Wegesrand stehen kurz danach Jens und meine Frau Jenny, die uns zujubeln und weitere Motivation geben. So hätte es für mich endlos weitergehen können. Nachdem wir die ersten 10 km durch das Zentrum Richtung Süden gelaufen sind, kommt ein Wendeplatz, und wir sehen, dass noch viele Läufer hinter uns sind. München zieht an uns vorbei und mit ihm die Innenstadt mit Ihren Strassen und Plätzen, mit dem Obelisk und den Denkmälern. Und mit Ihnen viele viele Zuschauer am Rand. Der vom Regen des Vortages feuchte Boden dampft und ich freue mich, dass ich schon 18 km ohne weitere Probleme in guter Zeit geschafft habe.

   

 Auf einmal schließt Matthias auf. Er ist weiter hinten im Feld mit Christof gestartet und hat sich nach ein paar Kilometern von ihm getrennt. „Ich habe gemerkt, dass noch mehr geht!!“ sagt er und wir feuern ihn an, sein höheres Tempo weiter durchzulaufen. Denn wenn er sein Tempo hält, wird er eine hervorragende Zeit schaffen! Kurz sehe ich ihn noch vorne in der Menge der Läufer, bis er dann ganz verschwunden ist. Unangenehmerweise zieht die Sonne hinter die Wolken, die uns bald wieder eindecken und es wird kurz danach empfindlich kühler. Im T-Shirt fröstele ich, obwohl ich eine lange Laufhose anhabe. Auch bekommt Jörn erste ernste Schwierigkeiten, was ich an den zusammengezogenen Augenbrauen sehen kann. OK, auch ich bin überrascht, dass ich die ganze Zeit mit einem für mich sehr hohen Puls von 155 Schlägen pro Minute laufe. Wahrscheinlich bin ich auch aufgeregt und laufe etwas schneller als sonst im Training beim LT Karlsruhe. Die Kilometer reihen sich aneinander, bis Jörn bei km 23 einen ersten kleinen Einbruch bekommt. Ich bleibe bei ihm in der etwas reduzierten Geschwindigkeit um meinen Puls ein bisschen senken zu können und wir lassen Viola stetig nach vorne aus dem Sichtfeld entschwinden. 

So, jetzt kommen die schwierigeren Kilometer! Jörn muss eine Gehpause einlegen. Er ruft „Lauf weiter! Du musst weiter, lauf schon!“ und ich halte das Tempo. Ab dem Zeitpunkt bin ich alleine unterwegs. Mein linkes Knie fängt nach und nach an zu schmerzen. Mein Puls sinkt trotz reduziertem Tempo nicht. Nun gut, ich weiß, dass die letzten Kilometer eines Marathon schwer sind, aber Schwierigkeiten bereits ab km 25, darauf bin ich nicht eingestellt. Km 27: Ich muss eine Gehpause einlegen. Das Knie will nicht mehr so recht. Ich auch nicht. Doch dann kommt Jörn ein letztes mal von hintern angejoggt und nimmt mich mit. Ich laufe ab jetzt langsamer und unter Knieschmerzen, aber aufhören will ich noch nicht. Jetzt noch nicht. Ich will das Stadion sehen!! Jeden 2. Kilometer gehe ich einige hundert Meter und meine Zeiten pro Kilometer zeigen das deutlich. Von den gewohnten 5:22 Minuten steigt die Zeit auf 7 Minuten, dann auf 8. Eine weitere Änderung: Dadurch dass ich nicht mehr so schnell laufe wird es mir richtig kalt. Und das einzige zum Warmmachen ist das Laufen. Jacke habe ich keine dabei. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher ob ich durchlaufen werde, bis ich bei km 32 auf eine gute Idee komme – immer nur ein bisschen weiter – gerade diesen km noch fertig. Nur noch diesen einen km fertig und dann sehen wir weiter. Die Verpflegungsstationen lenken mich ab und geben mir immer wieder neue Kraft. Klar – an eine gute Zeit ist jetzt nicht mehr zu denken, aber die Vorstellung geht mir einfach nicht aus dem Kopf – ich will in das Olympiastadion einlaufen – oder zumindest gehen, ganz egal. Aber ich will das Olympiastadion selbst erreichen und zum ersten Mal in meinem Leben mitten im Stadion stehen, bejubelt von Tausenden von Zuschauern. Die Idee funktioniert! Km 38: Irgendwie ist es besser geworden. Ich bin wie in Meditation. Der Knieschmerz kommt nur mehr aus der Ferne und auch wenn meine Beine und Sehnen total kraftlos sind, so rolle ich unaufhaltsam dem Ziel entgegen. Mit einem Lächeln im Gesicht. Km 41: Ein Mann am Rand brüllt – „Nur mehr 800 Meter!! Nur mehr 800!!“ und ich nehme alles was ich noch an Beinmuskeln habe in die Hand und laufe und laufe und lächele. Gleich habe ich es endlich geschafft! Der Einlauf zum Stadion ist mit Nebelschwaden aus Nebelmaschinen gesäumt und ich laufe in das Stadion in die letzte Runde.

    Tausende Leute jubeln und klatschen – und da vorne: Oli (der Leiter vom Runners Point) brüllt mir zu und feuert mich an – und neben ihm Viola, die bereits im Ziel ist. Es ist so klasse! Ich laufe ins Ziel und sie beglückwünschen mich und stützen mich. Ich bin so fertig, ich bin so wackelig. Ich bin so glücklich und von der Szene so ergriffen! Mir kommen Tränen über die Backen gekullert und ich weiß – ich habe es geschafft!   Erst später erfahre ich: Matthias hat sein hohes Tempo durchgehalten und eine Zeit um 3:44 Stunden geschafft. Klasse! Viola war gleichmäßig und unglaublich ausdauernd mit 3:58 Stunden eingelaufen. Ich selbst war mit 4:13 Stunden im Ziel. Christof hat seine eigene Geschichte erlebt und kam mit 4:38 Stunden ins Ziel – und mit ihm ein Mädchen, das er beim Laufen kennengelernt hatte und die ihn und sich bis zum Schluss motiviert hatte. Jörn musste leider bei km 32 abbrechen. Aber er hat trotzdem - oder gerade in Anbetracht der Umstände - einen tollen Lauf gemacht! Ja, das ist jetzt unsere Geschichte, von guten Freunden, viel München und einem langen langen Weg. Und nicht der Weg zählt, sondern die Erinnerung daran.