Es war also soweit, an diesem Wochenende sollte ich beim 39. Berlin-Marathon meinen zweiten Wettkampf über die klassische Distanz von 42195m bestreiten. Meine Bestzeit aus dem Jahr 2010 stand bei 2:51:13, diese damals in Karlsruhe erreichte Marke wollte ich deutlich unterbieten. Als Ziel hatte ich schon direkt nach dem Baden-Marathon eine Zeit unter 2:40:00 für meinen nächsten Marathon ausgegeben, war im Frühjahr 2011 daran aber schon im Training gescheitert. Verschleppte Verletzungen und berufliche Verpflichtungen hatten mir das Jahr 2011 läuferisch verhagelt. Ich hatte mir letztlich in meinem zweiten Jahr aus Läufer eingestehen müssen, dass geplante Saisonpausen, wie sie von erfahrenen Trainern empfohlen werden, besser sind als Verletzungen und Formeinbrüche.
Auch beruflich hatte ich mich verändert, nach Fertigstellen meiner Dissertation in Karlsruhe arbeitete ich nun in Berlin. So hatte ich neben den Stunden in den Zügen der Deutschen Bahn und den Wochenenden mit meiner Frau Silvia in Karlsurhe auch viel Zeit am Ort des nun anstehenden Wettkampfes verbracht.
Die Voraussetzungen für 2012 waren also andere als noch 2011: Ich hatte nach einer Pause komplett neu aufgebaut, gezielt auf eine 12 Wochen Periode vor dem 30. September in der ich etwa 140km pro Woche, gepaart mit intensiven Einheiten laufen wollte. Eine Zusammenfassung meines Trainings dieser letzten Wochen findet sich hier. Einzig nach meinem Training konnte ich beurteilen, dass ich wohl gut in Form war. Über Sommer hatte ich zwar einige Wettkämpfe gewonnen, einen direkten Indikator - einen flachen Halbmarathon oder wenigstens 10er - war ich aber nicht unter Normalbedingungen gelaufen. War also eine Pace von 3:47min/km möglich über die 42 Kilometer? Die Anspannung war groß.
Aus 39. Berlin-Marathon 2012
Silvia war am Freitag in Berlin angekommen und am Samstag Abend trafen wir uns mit einem weiteren Teil der Marathon-Delegation des LT-Karlsruhe: Gerhard war angereist um die Straßen der Hauptstadt unter die Füße zu nehmen, Melanie debütierte über die Distanz und Knut wollte durch einen 10. Zieleinlauf in den illustren Klub der Berlin-Marathon Jubilare aufsteigen, was mit einer fest vergebenen Startnummer und einer Startplatzgarantie belohnt wird. Wir hatten einen großartigen Italiener in Kreuzberg ausgemacht, die Pasta fülle mit unsere Muskeln mit Glykogen und der Austausch über Ziele und Pläne lies mich ein wenig lockerer werden.

Zuhause dan letzte Vorbreitungen und Check der Ausrüstung. Ich hatte mir das Start-Areal schon mehrfach auf meinem Weg zur Arbeit (auf dem es ohne Umweg liegt) angeschaut und alle Utensilien vor dem zu Bett gehen bereitgelegt. So verging die Zeit bis zum Rennen in großer Spannung. Der Versuch zu Schlafen, Frühstücken, Trinken, der Weg mit der S-Bahn über den Hauptbahnhof zum Start, Abgabe der Wechselkleidung, alles nach einem lange ausgetüftelten und hundertfach im Geiste durchgespielten System. Ich war angekommen in Block A, gespannt wie ein Bogen.

Dann fällt der Startschuss.

In 5 Sekunden bin ich über die Startlinie, nach wenigen Metern zeigt mir die Uhr dass die Pace passt. Weitere Kontrollen bestätigen dies: 3:47min/km. Schon nach 500m am großen Stern habe ich zum ersten Mal ein Gefühl von Euphorie: Was hatte ich mir Sorgen um den Start gemacht. Kilometerlangen Slalom-Lauf um 3-Stunden Läufer hatte ich bei meinem ersten Mega-Marathon mit Zehntausenden Läufern befürchtet. Alles Quatsch, 3:47min für den ersten Kilometer.
Die nächsten 15km sind unspektakulär, ich laufe um 3:45min/km. Leicht schneller als geplant. Meine Mitläufer tragen Trikots aus aller Herren Länder ich entdecke neben Dänen und Spaniern auch einige "Club-Vests" aus meiner alten Wahlheimat Schottland, das Feld ist allerdings noch so dicht, dass ich kaum einen Überblick habe wer mit mir läuft. Bei Kilometer 10 (37:30) überhole ich eine Japanerin, bei Kilometer 15 (56:15) eine Argentinierin.
Bei Kilometer 17 reicht mir Silvia eine Flasche stark gesalzenes Zucker-Wasser. Ich rufe ihr zu, dass es mir super geht. Ab jetzt überholt mich niemand mehr. Ich setze mich aus einer Gruppe ab und schließe langsam zur nächsten auf. Als wir an der Yorkstraße unter einer langen Brücke hindurch laufen stachle ich, wie einige meiner Mitläufer, die Zuschauer an uns anzufeuern. Euphorie pur. Das wird mein Tag!
Als ich nach 1:19:01 die Halbmarathonmarke überlaufe muss ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass noch Vorsicht geboten ist. Erst ab Kilometer 30 dürfe man Vollgas geben, ohne Angst haben zu müssen sich zu früh zu verausgaben, hatte ich gelesen.
Als Silvia mir bei Kilometer 23 eine weiter Flasche meines Getränks reicht rufe ich ihr laut zu "Zwei-Acht-Und-Dreißig, ACHT-UND-DREIßIG"! Durch meine eigene Ankündigung motiviert lege ich eine Schippe drauf. Ich löse mich aus der Gruppe, laufe auf einen schwarzen Läufer auf, der mich irgendwo bei Kilometer 10 überholt hatte. Mit ihm zusammen überhole ich Läufer um Läufer. Ich laufe immernoch nicht mit vollem Einsatz. Wann kommt denn endlich Kilometer 30? Wann darf ich endlich loslassen und alles geben?
Mein schwarzer Begleiter ist mir irgendwann an Kilometer 28 an einem Getränkestand abhanden gekommen. Ich erhöhe das Tempo.
Ab jetzt wiederholt sich eine aus den letzten Kilometern bekannte Szene noch schneller, noch häufiger: Ich laufe auf eine Gruppe auf, die Läufer schauen kurz, langsam gehe ich an die Spitze der Gruppe, einige wollen dran bleiben, wenn ich mich umsehe bemerke ich, dass ich die Gruppe auseinander gerissen habe. Ich gebe weiter Gas. Die nächst Gruppe, das selbe Spiel. Ich fühle mich als könnte ich fliegen, jetzt, ab Kilometer 30 darf ich endlich alles geben.
Aus 39. Berlin-Marathon 2012
Doch irgendwann höre ich ein leichtes Stöhnen, das sich nicht abschütteln lässt. Es gehört einem Spanier in einem gelb-roten Trikot. Er läuft hinter mir und weicht mir nicht von den Fersen.
Juan Matias stammt von Kanaren, sein Gesicht zeigt keine Regung, mit jedem seiner Atemzüge lässt er mich aber wissen, dass er noch an meinen Hacken klebt: Mit einem Stöhnen zeigt er mir, dass er hart arbeitet. Als hätte dies noch nicht genügt um mich zu motivieren mischt er in einige seiner Seufzer ein "uuhh-good-pace" oder ein "oohhh-strong-pace". Ich laufe wie um ihn abzuschütteln, als ginge es zwischen uns beiden um den ersten Platz. Ich schaffe es nicht, er bleibt dran, und ich bin froh darum. Kilometer 30-40 in 36:15min, "Uhh strong pace"!
Aus 39. Berlin-Marathon 2012
Als wir bei 2:28:31 Kilometer 40 passieren, beschäftige ich mich zum ersten Mal seit km 25 wieder mit der Zeit. Ich kann die 5km Splits eigentlich auswendig: Sub 19, 38, 57, 1:16, 1:35, 1:54, 2:13, 2:32. Wie passt hier eine 2:28? Ich muss mehrmals nachrechnen um festzustellen, dass ich wohl gute 3min vor meinem Ziel den Marathon unter 2:40 zu laufen liege.
Als ich mein Überlegungen abgeschlossen habe sind wir bereits auf dem letzten Kilometer, die Pace ist immernoch mörderisch. 3:36 war mein Trainingstempo für schnelle Dauerläufe, nicht länger als 12km. Woher stammt nur die Kraft die letzten, entscheidenden Kilometer eines Marathons nun in diesem Tempo zu laufen? Wir biegen auf die Zielgerade ein, "Unter den Linden". Wie oft hatte ich mir diesen Zeitpunkt in den letzten Wochen vorgestellt.
Ich bemerke, dass ich ich total kaputt bin. Egal, ich sehe das Brandenburger Tor! Juan Matiaas gibt nochmal Gas, er dreht sich noch zu mir um, feuert mich an. Ich kann nicht mehr. Als wir durch das Brandenburger Tor laufen unternimmt er einen letzten Versuch, schiebt mich sogar an. Ich rufe ihm zu er solle weiterlaufen, endlich kann ich ihn überzeugen dies auch zu tun. Alles tut nur noch weh. So muss sich eine Begegnung mit dem "Mann mit dem Hammer" anfühlen! Ich sehe die Uhr über dem Zielkanal 2:36:was-auch-immmer. Ich will nur noch zu dieser Linie, verdammt! Hatte ich mir nicht vorgestellt wie ich vor den Zuschauern juble wenn ich mein Zeit-Ziel erreicht habe, nichts läge mir jezt ferner, die Zuschauer sind mir sowas von egal. An die nächsten 30 Sekunden, die letzten 20 des Rennens und die ersten 10 danach, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Das Rennen ist aus.

Da stand ich also hinter der Ziellinie mit einem Grinsen bis über beide Ohren. Diese Grinsen blieb in meinem Gesicht während ich mechanisch weiter trottete, meine Verpflegung an mich nahm, duschte und Essen in mich hineinstopfte.
Irgendwann nach dem Duschen war dann der Ego-Trip im Konzentrationstunnel vorbei, den ich mit dem zu Bett gehen am Vortag begonnen hatte. Ich interessierte mich wieder für die anderen Läufer und so saß ich noch einige Minuten im Zielbereich um Ausschau nach bekannte Gesichtern zu halten. Leider war es schon etwas zu spät und ich konnte niemanden mehr in den Massen ausmachen. Umso größer war die Freude als ich Silvia am verabredeten Ort traf, all die Anspannung viel von mir ab.
Aus 39. Berlin-Marathon 2012
Sogar Juan Matias habe ich wieder getroffen.
Aus 39. Berlin-Marathon 2012
Auch Knut haben wir wiedergetroffen. Er hatte sein Ziel erreicht den 10. Berlin-Marathon zu finishen (und dabei nahezu untrainiert unter 3 Stunden zu bleiben).
Aus 39. Berlin-Marathon 2012
Dieser Maraton war mit Abstad der emotionalste Lauf an dem ich je teilgenommen habe. Noch heute kommt oft dieses Gefühl des Erfolgs, das ich bei diesem unvergesslichen Läuf hatte, in mir hoch - nicht nur wenn ich mir die Bilder oder meine Zwischenzeiten anschaue.
Als Ziel für meinen nächsten Marathon habe ich schon wieder eine Zeit im Visier. Ob diese erreichbar sein wird kann ich nicht sagen, wohl aber, dass ich meinen nächsten Marathon wieder in Berlin laufen werde. Zum einen muss ich im Frühling 2013 nach einer geplanten Saisonpause meine Zeiten auf den Unterdistanzen verbessern, zum anderen bin ich der Meinung, dass nicht nur körperliche sondern vorallem mental der Fokus auf nur einen Marathon pro Jahr für mich notwendig ist. Wie sonst könnte ich mich so stark motivieren um an einem speziellen Tag, an dem ich auf den Punkt in Höchstform bin, wirklich alles zu geben. Für andere mögen 2 Marathons pro Jahr funktioniern, mehr schafft sicher niemand mit diesem Anspruch. Da ich nunmal ein Bestzeit-besessener Läufer bin, muss ich wieder auf dem schnellsten Kurs der Welt über diese Distanz antreten:

Der Berlin-Marathon 2013 wird wieder mit mir stattfinden!



Emanuel