Comrades in Südafrika Yeah ...
"Es geht gleich los. Hörst du die Leute Shosholoosa singen, das alte Antiapartheidslied?" So müssen meine Worte gewesen sein, als ich Claudia mit dem Handy von Südafrika aus in Karlsruhe anrief. Es war kurz vor 5:30 Uhr, Claudia lag noch im Bett. "Ich stehe hier im Startblock D. Hörst du die Stimmung? Hast du den Kanonenschuss gehört? Das war der Start. Jetzt geht's los. Wünsche mir einen guten Tag." Meine Gefühle in dieser Situation lassen sich kaum in Worte fassen. Am ehesten vielleicht noch durch: "unbeschreiblich". Die Rührung drückt mir Tränen in die Augen. Was treibt mich an, zusammen mit 13500 Kameraden (Comrades) freiwillig 89,6 km zu laufen? Der größte Ultralauf der Welt, wahrscheinlich auch der härteste?
Ich sage euch warum ...
Es ist nicht einfach ein lange geplantes Laufereignis, nein, schon der Weg dorthin ist ein Ziel. Mehrere Monate bewusste Vorbereitung enden an diesem Tag. Unzählige Lauftreffs am Sonntagmorgen, Läufe in Kandel, Rülzheim und am Rennsteig - vergessen. Heute ist ganz Südafrika auf den Beinen. Der Lauf wird 12 Stunden live im Fernsehen übertragen. Ich weiss, dass heute auch zwei liebe Kolleginnen aus unserer Pretoriazeit den ganzen Tag im Fernsehsessel verbringen werden, nur um mich zu sehen, bei dem Ultra, bei den ultimativen .... Comrades. Es ist ein Tag, der alle meine Sinne erfasst, alle fünf ..., und darüber hinaus viele Emotionen weckt. Hören: Morgens um 4 Uhr weckt mich der vereinte Klang des Handys und des Weckers, dann in der morgentlichen Stille noch die letzten Vorbereitungen: sitzt der Chip fest, habe ich die richtigen Schuhe, esse ich noch eine Banane? Auf dem Weg zum Start höre ich laute Musik. Es ist das Endlosband von "Chariots of Fire", das dann kurz vor dem Schuss durch ein tausendkehliges "Shosholoosa" übertönt wird. Plötzlich Stille. "The cock crows", eine alte Sitte - ein Läufer immitiert einen krähenden Hahn - dann die Kanone. Ich höre das tausendfache Getrampel schwerer Füße, bis ich fühle, dass das auch meine Füsse sind.
Fühlen: Ich fühle den kalten Nebel, als wir die Stadt Pietermaritzburg hinter uns lassen. Die Temperaturtafel zeigt nur 2 °C. Es ist morgens immer kalt hier. Ich fühle das eiskalte Wasser, das ich nach 40km langsam über meinen Rücken gieße. Ich fühle auch die Hände der Kinder, die immer wieder am Straßenrand "Gimme five" rufend ihre Arme zu mir strecken.
Riechen: Ich rieche schon von Ferne die großen Hühnerfarmen bei Camperdown. Grillfeuer - so riecht Südafrika - am Anfang wärmen sich unsere Supporter noch die Hände, doch schon bald pruzzeln Boerewurs und Spare Ribs auf den Kohlefeuern. Ich rieche auch 'Deep Heat', das Gel, das ich mir vorbeugend gegen Krämpfe auf meine Oberschenkel schmiere. Schmecken: Alle 4km ist eine Verpflegungsstation, mir schmeckt das Cola, das Wasser, immer eiskalt von helfenden Händen serviert. Claudia hat mir einige Beutel Schoko - Powergel zugesteckt - alle 15 km schmeckt das auch gut - und der gesamte Lauf ein Geschmack von Abenteuer.
Sehen? Ich sehe auch Steven, der bei der Halfwaymarke steht und für mich ein Paar Ersatzschuhe bereithält. Ich sehe und fühle das "Valley of 1000 Hills", tausende UpRuns und tausende DownRuns. Die Landschaft ist grandios. Anfangs durchzieht ein feiner Nebel die Täler. Doch die aufgehende Sonne frisst ihn langsam auf. Dann glitzert immer wieder ein Mäander des Umgeni Rivers zu mir. Kurz nach dem Ortsausgang von Fields Hill sehe ich das Schild '25 km to go'. Von hier sehe ich zum ersten Mal das Meer: der Indische Ozean vor meinen Augen, einige Schiffe warten am Hafeneingang von Durban. Comrades-Day ist Nationalfeiertag, da arbeitet niemand im Hafen. Alle stehen sie an der Strecke und feuern uns an, wie nirgends sonst auf der Welt. Der nächste Anstieg ist "Cowies Hill". Hier sehen mich wieder Fernsehkameras, keine Schwäche zeigen, langsam hochlaufen. Angetrieben von den Zuschauer ist das auch kein Problem. Dauernd höre ich "Pretoria - you are looking good, you will make it", oder noch am frühen Morgen "Pretoria - you are looking good, still 70km to go, but you are looking good." Ich trage ein Hemd des Pretoria Marathon Club, meinem alten Verein zu Südafrikazeiten, und da sie meinen Namen nicht kennen, rufen sie mich einfach "Pretoria", als wäre ich der einzige Teilnehmer.
Fühlen: Ich habe niemals in meinem Leben solche Schmerzen gespürt. Ich fühle jeden Muskel meiner Beine, zuerst nur auf der Rückseite bei den UpRuns. Aber von jedem Hügel muss man wieder herrunterlaufen und das schmerzt dann auf der Oberschenkelvorderseite. Zur Schonung drehe ich meine Füße nach außen, und ich fühle, es gibt noch Muskeln an der Innenseite der Beine. Die Schmerzen sind wirklich groß, doch erst zwei Tage später sehe ich den riesigen Bluterguß an meinem linken Oberschenkel.
Trotzdem fühle ich mich wie von tausenden Händen getragen, wenn die Kilometer heruntergezählt werden, '42km to go', dann noch 37km, 20km, 9, 4, ... 'Come on Pretoria, you are nearly there, only 700m'. Dann das Ziel, wieder lauern die Fernsehkameras, meinen beiden Kolleginnen winkend überquere ich die "Finishline".
Zum fünften Mal habe ich jetzt die Comrades-Ziellinie überquert. Ob das wohl das letzte Mal war?
Es gibt auch andere großartige Laufereignisse, wie Finama, Kandel und Baden-Marathon, auf das es sich lohnt darauf hinzuarbeiten, aber es ist für mich keine Frage, das können nur Stationen auf dem Weg zum ultimativen Comrades sein.
Helmut Krämer, Comrades 2003 (Bis 2019 waren es 10x)